Von Hussein Pabarja - Der eigentliche Widerspruch liegt in Deutschlands Unwilligkeit, der Ukraine Marschflugkörper vom Typ Taurus zu liefern – genau die Art von Langstreckenwaffen, die solche Angriffe überhaupt erst möglich machen würden. Diese Zurückhaltung, offiziell als Versuch der Eskalationsvermeidung gerechtfertigt, offenbart eine tiefere strategische Dysfunktion. Deutschlands politische Führung formuliert kühne geopolitische Ziele, während sie die schwierigen Entscheidungen vermeidet, die echte Führung erfordert. Im Grunde bittet sie andere, das zu tun, wozu sie selbst nicht bereit ist.
Ausgehöhlte Fähigkeiten, tiefere Vakuen
Die Defizite der Bundeswehr beschränken sich nicht auf veraltete Ausrüstung oder logistische Pannen – sie spiegeln eine langfristige Erosion des Zwecks wider. Die Personalzahlen sinken, anstatt zu steigen, und die Streitkräfte liegen derzeit bei etwa 181.000 Soldaten – deutlich unter dem für 2031 gesetzten Ziel von 203.000. Die Rekrutierung befindet sich im freien Fall: Über 25% der neuen Rekruten steigen innerhalb von sechs Monaten aus, viele gelockt von vorhersehbareren zivilen Möglichkeiten. Das Durchschnittsalter des aktiven Personals steigt und liegt mittlerweile über 34 Jahren. Parallel dazu sind institutionelles Gedächtnis und grundlegende Kampffähigkeiten nach Jahrzehnten von Auslandseinsätzen mit geringer Intensität und einer Kultur, die bürokratische Trägheit über operative Exzellenz stellt, verkümmert.
Dieser Verfall ist kein Zufall – er ist die kumulative Wirkung einer politischen Klasse, die unter Angela Merkel wirtschaftliche Stabilität und exportgetriebenes Wachstum über Verteidigungsbereitschaft stellte. Deutschland unterschritt konsequent die NATO-Richtlinie von 2% Verteidigungsausgaben, bis Russlands Vollinvasion der Ukraine Berlin zum Handeln zwang. Selbst der dramatische 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds, der 2022 angekündigt wurde, ist an Beschaffungsengpässen und administrativer Dysfunktion gescheitert.
Eine Armee ohne Soldaten – und ohne Seele
Die Personalkrisen der Bundeswehr lassen sich nicht allein durch Budgeterhöhungen lösen. Sie ist eine Truppe, die in einer Identitätsfalle gefangen ist. Als Gegenentwurf zur Wehrmacht gegründet, internalisierte die Bundeswehr das Konzept des „Staatsbürgers in Uniform", wobei Gewissen, Legalität und individuelle Verantwortung über Hierarchie und Zusammenhalt gestellt wurden. Dies war moralisch vertretbar – hat sich aber als ungeeignet erwiesen, um in der heutigen geopolitischen Umgebung eine kriegsbereite Truppe aufzubauen.
Was heute existiert, ist ein Militär, das als Sprungbrett für zivile Karrieren vermarktet wird. Rekrutierungskampagnen betonen subventionierte Universitätsabschlüsse und Lifestyle-Vorteile statt Pflicht oder Dienst. Diversitätsinitiativen – die sozial lobenswert sind – wurden oft als symbolische Gesten eingesetzt, um Modernität zu signalisieren, anstatt in breitere Strategien zur sozialen Kohäsion oder operativen Effektivität integriert zu werden. Dabei riskiert die Bundeswehr, gerade jene Arbeiterklasse-Milieus zu entfremden – insbesondere in Ostdeutschland – die historisch das Rückgrat der meisten Berufsarmeen bilden. Dabei nehmen nahezu 100.000 der 181.000 Soldaten Offiziers- oder Verwaltungspositionen ein, wodurch weniger als die Hälfte für Frontdienste verfügbar bleibt. Diese führungslastige Struktur spiegelt ein Militär wider, das sich mehr auf Bürokratie als auf Einsatzbereitschaft konzentriert.
Geister der Geschichte und die Angst vor Macht
Im Kern der Bundeswehr-Dysfunktion liegt ein tiefgreifendes nationales Unbehagen gegenüber militärischer Gewalt selbst. Deutschlands Katastrophen des 20. Jahrhunderts werfen einen langen Schatten: Das öffentliche Vertrauen in die Streitkräfte bleibt verhalten, insbesondere angesichts wiederkehrender Skandale wie des Rechtsextremismus innerhalb der Elite-Kommandoeinheit KSK. Selbst heute lehnen über 60% der Deutschen die Lieferung von Langstreckenwaffen an die Ukraine ab und befürchten eine „Provokation" Russlands. Diese Passivität ist besonders im ehemaligen Osten ausgeprägt, wo Sympathien für Moskau im lokalen Gedächtnis verankert sind und politische Ergebnisse prägen – exemplarisch verdeutlicht durch den Aufstieg der AfD. Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Krieg basierte lange auf strategischer Abhängigkeit – Abschreckung an die Vereinigten Staaten ausgelagert, während man die wirtschaftlichen Dividenden globaler Stabilität einstreichte. Doch diese Krücke wackelt. Die politische Volatilität Amerikas, verkörpert durch die mögliche Rückkehr von Donald Trump oder ähnliche isolationistische Tendenzen, legt die Last der kontinentalen Verteidigung zunehmend auf die Schultern Deutschlands. Und dennoch erscheint das Land politisch und psychologisch nicht bereit, diese zu tragen.
Die strategische Illusion
Bundeskanzler Friedrich Merz' Ambition, eine „Europas stärkste konventionelle Armee" aufzubauen, mag eindrucksvoll klingen, ist aber eine strategische Illusion – rhetorisch lobenswert, aber inhaltlich hohl. Militärische Stärke misst sich nicht in Euros oder der Anzahl bestellter Panzer; sie wurzelt in der Bereitschaft einer Gesellschaft, die Last der Verteidigung zu tragen. Moderne Kriegsführung erfordert mehr als ausgeklügelte Waffensysteme – sie braucht Soldaten mit Überzeugung, Widerstandsfähigkeit und der Bereitschaft, dem Tod ins Auge zu blicken. Und das setzt wiederum eine kohärente nationale Erzählung, eine sinnstiftende strategische Kultur und einen öffentlichen Konsens voraus, warum solche Opfer notwendig sind. Deutschland fehlen kritischerweise alle drei Aspekte.
Trotz der 200-Milliarden-Euro-Aufrüstungszusage nach der russischen Invasion in die Ukraine ist es Deutschland nicht gelungen, eine überzeugende Begründung zu formulieren, warum seine Bürger kämpfen sollten. Die Regierung beruft sich auf abstrakte Werte wie „Verteidigung der Demokratie" oder „Unterstützung europäischer Solidarität", aber diese vagen Ideale klingen hohl in Abwesenheit einer direkten nationalen Bedrohungswahrnehmung oder einer gemeinsamen militärischen Tradition. Anders als Länder mit tief verwurzelten Militärkulturen – wie Frankreich, Polen oder die Vereinigten Staaten – wurde Deutschlands Nachkriegsidentität um Entmilitarisierung, wirtschaftlichen Wohlstand und moralische Verantwortung aufgebaut, nicht um nationale Verteidigung. Die Bundeswehr hat sich so zu einer Organisation entwickelt, die in Bedeutungslosigkeit treibt, in der der Dienst eher als Karrierechance denn als patriotische Pflicht gerahmt wird.
Was bleibt, ist keine moderne Kampftruppe, sondern ein bürokratischer Apparat – überverwaltet, unterbesetzt und strategisch inkohärent. Rekruten werden durch subventierte Bildung und zivile Vergünstigungen gelockt, nicht durch ein Gefühl der Mission, und die Bindungsraten spiegeln diesen Mangel an ideologischem Engagement wider. Trotz hochrangiger Dringlichkeitserklärungen bleibt die Bundeswehr geplagt von veralteter Infrastruktur, schleppenden Beschaffungsprozessen und einer internen Hierarchie, die von politischen Empfindlichkeiten und Risikoscheu belastet wird.
Eine gut finanzierte Fata Morgana
Deutschland steht an einem wegweisenden geopolitischen Scheideweg, konfrontiert mit einer Sicherheitsumgebung, die von russischer Aggression, amerikanischer Unberechenbarkeit und wachsender globaler Instabilität geprägt ist. Wenn Berlin militärische Glaubwürdigkeit ernst meint, muss es über performative Gesten von Budgeterhöhungen und Beschaffungswunschlisten hinausgehen. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, die tiefere kulturelle Frage zu konfrontieren, der Deutschland lange ausgewichen ist: Welche Rolle soll militärische Macht in seiner nationalen Identität spielen?
Die Dysfunktion der Bundeswehr ist nicht nur das Produkt schlechten Verteidigungsmanagements oder jahrelanger Budgetvernachlässigung. Sie spiegelt eine grundlegendere gesellschaftliche Ambivalenz wider – eine Weigerung, vollständig zu akzeptieren, dass militärische Gewalt in einer Ära der wiederkehrenden Großmachtkonkurrenz ein notwendiges, ja sogar ethisches Instrument der Staatskunst sein kann. Jahrzehntelang hat Deutschland seine strategischen Verantwortlichkeiten an die NATO und insbesondere an die Vereinigten Staaten ausgelagert, sich unter dem Schirm transatlantischer Sicherheit geschützt und gleichzeitig eine politische Kultur militärischer Zurückhaltung kultiviert. Dieser Luxus schwindet rapide. Um in der neuen Sicherheitsordnung glaubwürdig zu bleiben, muss Deutschland eine nationale Abrechnung durchlaufen. Es muss definieren, nicht nur welche Art von Armee es will, sondern warum es eine braucht. Das bedeutet, die Geister seiner militaristischen Vergangenheit zu konfrontieren, ohne dass diese seine Gegenwart lähmen. Es bedeutet auch, die Öffentlichkeit in eine ehrliche Debatte darüber einzubinden, was nationale Verteidigung bedeutet – nicht nur in Bezug auf Geld und Ausrüstung, sondern in Bezug auf Opferbereitschaft, Risiko und gemeinsame Verantwortung.
Bis diese strategische und gesellschaftliche Transformation stattfindet, bleibt die Bundeswehr eine gut finanzierte Fata Morgana: eine Armee mit modernen Waffen, aber ohne Kampfgeist, mit politischer Aufmerksamkeit, aber ohne öffentliches Mandat, mit finanziellen Ressourcen, aber ohne einenden Zweck. Keine Menge an Euros kann kaufen, was ihr am meisten fehlt – Überzeugung, Legitimität und die moralische Kohäsion, die eine Armee nicht nur funktional, sondern furchteinflößend macht.
Quelle
Bundesministerium der Verteidigung. “Zahlen, Daten, Fakten: Die Bundeswehr in Zahlen.” 2024.
Der Spiegel. “Der Reformstau der Bundeswehr: Milliarden verpuffen im System.” March 2024.
Süddeutsche Zeitung. “Rechtsextremismus im KSK: Wie tief ist das Problem?” November 2023.
IISS (International Institute for Strategic Studies). The Military Balance 2024.
European Council on Foreign Relations. “Germany’s Zeitenwende and Its Discontents.” February 2024.
Carnegie Europe. “Germany’s Security Identity Crisis.” September 2023.
Pew Research Center. “German Public Opinion and the Ukraine War.” 2023.
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). “Die Bundeswehr nach der Zeitenwende: Herausforderungen und Optionen.” 2024.
Foreign Policy. “Germany’s Military Is a Paper Tiger.” May 2023.
NATO Defence Planning Capability Review – Germany. 2023–24 cycle.
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