In seiner Eröffnungsrede thematisierte Zarif sowohl die strukturellen Veränderungen in der internationalen Ordnung seit dem Ende des Kalten Krieges als auch die Herausforderungen einer eurozentrischen Normsetzung im globalen Kontext.
Zarif unterstrich, dass das gegenwärtige internationale System posthegemonial sei und sich seit dem Zerfall der Sowjetunion zunehmend von einer unipolaren Weltordnung entferne. Er kritisierte die westliche Interpretation des Zusammenbruchs der Sowjetunion als einen „Sieg des Westens“, während es sich in Wahrheit um das Scheitern des Ostblocks gehandelt habe. Die Vereinigten Staaten, so Zarif, hätten diesen vermeintlichen Sieg zur Legitimierung einer militärisch geprägten Außenpolitik genutzt, die letztlich gescheitert sei – wie etwa im offiziellen US-Bericht der Baker-Hamilton-Kommission von 2006 eingeräumt wurde.
In Bezug auf die Rolle Europas in den Jahren nach dem Kalten Krieg erklärte Zarif, dass insbesondere europäische Staaten maßgeblich zur Etablierung neuer globaler Normen in Bereichen wie Menschenrechte, Umwelt, soziale Sicherheit und internationale Justiz beigetragen hätten – oftmals unabhängig vom politischen Kurs der Vereinigten Staaten. Ein markantes Beispiel sei die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs, die trotz der ablehnenden Haltung Washingtons durch diplomatische Konsensbildung vorangetrieben worden sei.
„Warum soll das palästinensische Volk für den Holocaust bezahlen?“
Besondere Aufmerksamkeit erregten Zarifs Ausführungen zur europäischen Haltung gegenüber Israel und der historischen Schuld des Kontinents am Holocaust. Zarif stellte klar, dass er die historische Realität des Holocaust nicht in Frage stelle, sondern im Gegenteil der Auffassung sei, Europa müsse „auf ewig“ beschämt über dieses Kapitel seiner Geschichte sein. Jedoch sei die daraus resultierende politische Haltung gegenüber Israel – insbesondere Deutschlands nahezu bedingungslose Unterstützung israelischer Politik – nicht nachvollziehbar.
„Was hat das palästinensische Volk mit dem Holocaust zu tun?“, fragte Zarif rhetorisch. „Warum sollen sie für ein Verbrechen zahlen, an dem sie keinerlei Anteil hatten?“ Die gegenwärtige politische Linie Deutschlands in Bezug auf den Gazastreifen bezeichnete Zarif als eine der „extremsten“ in Europa – motiviert weniger durch geopolitische Interessen als vielmehr durch ein tief sitzendes Schuldgefühl.
Iran als Brücke zwischen Europa und den USA – und zwischen Russland und dem Westen
Zarif betonte, dass Iran in verschiedenen historischen Phasen eine vermittelnde Rolle zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gespielt habe – beispielsweise im Zusammenhang mit der Resolution 598 während des Iran-Irak-Kriegs oder bei den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm Anfang der 2000er-Jahre. Die Phase vor 2005 sei durch eine deutliche Ablehnung der US-Strategie durch europäische Akteure geprägt gewesen. Diese hätten etwa 2004 einen amerikanischen Vorstoß, Irans Nuklearakte vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen, blockiert.
Zarif erklärte jedoch, dass sich diese Dynamik mit dem Amtsantritt von Präsident Ahmadinedschad verändert habe. Seither sei es zu einer zunehmenden Annäherung europäischer Staaten an die US-Linie gekommen, was aus seiner Sicht den diplomatischen Spielraum für Iran eingeschränkt habe.
Fehlgeleitete Erwartungen an Europa und die Rolle der Instex-Plattform
Kritisch äußerte sich Zarif auch über die Erwartung, Europa könne als wirtschaftliches Gegengewicht zu den USA auftreten – insbesondere im Zusammenhang mit der gescheiterten Umsetzung des Instex-Mechanismus, einem Instrument zur Umgehung von US-Sanktionen gegen den Iran. Europa habe in wirtschaftlicher wie auch sicherheitspolitischer Hinsicht nie den Anspruch gehabt, sich als globale Alternative zu den Vereinigten Staaten zu etablieren. Vielmehr liege Europas Stärke traditionell in der Normsetzung – ein Feld, das jedoch zunehmend unter dem Einfluss pro-israelischer Lobbygruppen und aus geopolitischer Unsicherheit an Wirkung verliere.
Europäische Hybris und das Scheitern normativer Außenpolitik
Zarif warf europäischen Akteuren eine normative Selbstüberhöhung vor, die sich insbesondere in den Atomverhandlungen mit Iran widerspiegelt habe. Während Verträge wie etwa das Abkommen mit Airbus unter massivem Vorbehalt und mit Abhängigkeit von US-Genehmigungen abgeschlossen worden seien, sei das Boeing-Geschäft wesentlich schneller zustande gekommen. Europa habe es dadurch versäumt, seine normative Eigenständigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten zu behaupten.
Rechtlicher Universalismus im Wandel – Kritik an „Rule-Based Order“
Zum Abschluss seiner Rede warnte Zarif vor der Aufweichung des klassischen Völkerrechts durch das von westlichen Staaten propagierte Konzept einer „regelbasierten internationalen Ordnung“ (Rule-Based International Order), welches zunehmend politische Opportunität über juristische Kohärenz stelle. Diese Entwicklung sei insbesondere von Russland mit großer Besorgnis beobachtet worden.
Die Ausführungen Zarifs auf der Konferenz beleuchten zentrale Spannungsfelder der gegenwärtigen internationalen Ordnung und unterstreichen Irans strategische Zielsetzung, sich im Kontext einer multipolaren Weltordnung neu zu positionieren – mit gezielten Partnerschaften zu Europa, China und Russland.